Die sahrauische Künstlerin und Menschenrechtsverteidigerin Asria Mohamed Taleb setzt sich unter anderem mit Kunst für das Recht auf Selbstbestimmung ihres Volkes ein. Mit der mobilen Zeltinstallation «Jaimitna» zeigt sie anhand von 19 Frauenbiografien deren Kampf in der von Marokko besetzten Westsahara. Das Zelt gastiert im Herbst 2025 am Basler Culturescapes Festival.
Wie ist es, in einem sahrauischen Flüchtlingslager in Algerien aufzuwachsen?
Asria Mohamed Taleb: Ich sage immer: Diejenigen von uns, die in den Lagern geboren wurden, hatten eine sehr glückliche Kindheit. Bis spät in die Nacht spielten wir barfuss in der staubigen Wüste, in der sich die Camps befinden. Die Lebensumstände waren für uns alle sehr ähnlich, etwa wie wir wohnten, dass wir alle auf humanitäre Hilfe angewiesen waren und die gleichen Lebensmittel assen.
Als Kind oder Jugendliche*r verstehst du nicht wirklich, dass das nicht normal ist und dass man unter härteren Bedingungen lebt, als andere – bis man die Welt ausserhalb der Lager entdeckt. Sobald man ins Ausland reist, merkt man, dass man nicht so viel hatte, wie man dachte. Du beginnst, die Ungerechtigkeit zu verstehen.
Andererseits haben die Kinder in den Lagern Zugang zu Bildung – im Gegensatz zu Millionen anderer Kinder, vor allem Mädchen. Als ich nach Norwegen zog und mehr über Konflikte und Armut auf der Welt lernte, begann ich, das sehr zu schätzen. Die Flüchtlingslager sind ein grossartiges Beispiel für die Macht der Bildung. Sehr viele dort haben ein hohes Bildungsniveau. Aber der Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten ist eine grosse Herausforderung. Ich beobachte, dass eine wachsende Zahl junger Menschen die Schule abbricht. Einer der Hauptgründe ist, dass sie nicht wirklich einen Sinn im Studium sehen. Sie glauben nicht, dass es in ihrer Zukunft für sie eine Arbeit gibt. Schon in der Oberstufe sind sie frustriert über den Mangel an Perspektiven und Aktivitäten. Das scheint mir sehr gefährlich. Wenn junge Menschen zu viel Zeit zur Verfügung haben, geraten sie einfacher in Schwierigkeiten oder konsumieren Drogen.
Wofür steht das Sahraui-Zelt, die Jaima?
Sie ist die Essenz, Sahraui zu sein. Die Jaima ist eines der wichtigsten Symbole der sahrauischen Kultur. Das Zelt bietet Zuflucht vor dem rauen Wüstenklima und ist tief mit unserem Erbe und unserer kulturellen Identität verbunden. Vor allem aber ist die Jaima ein Symbol unserer Grundwerte, auf die wir sehr stolz sind: Grosszügigkeit und Gastfreundschaft.
Das traditionelle sahrauische Zelt hat eine grosse offene Tür, die jede*n Willkommen heisst. Wenn Sie uns in unserer Jaima besuchen, teilen wir nicht nur unser Essen mit Ihnen, sondern auch unseren emotionalen Raum: Liebe, aber vor allem Toleranz. In unserer Kultur gilt es als schlechtes Benehmen, einen Gast zu fragen, wer er ist oder warum er gekommen ist. Auch wenn es sich um wildfremde Menschen handelt, sollten sie mit einem grossen Lächeln begrüsst und sofort mit Tee versorgt werden.
In vielen westlichen Stereotypen wird das Zelt mit Armut oder Vertreibung assoziiert oder mit etwas, das gedankenlos zusammengewürfelt wurde. Aber in Wirklichkeit ist die Jaima ein elegantes Stück Architektur. Es ist speziell auf das Leben der Beduinen und auf die Realität des Wüstenlebens zugeschnitten. Ein Symbol für Stabilität in der Bewegung.
Seit den Protesten 2010 im westsahrauischen Gdeim Izik hat das Zelt für die Sahrauis eine noch grössere Bedeutung bekommen – und ist für die marokkanischen Behörden noch bedrohlicher geworden. Daraufhin hat Marokko die Jaima in der besetzten Westsahara verboten. Deshalb gilt sie heute nicht nur als kulturelle Ikone, sondern auch als Symbol des Widerstands und der Hoffnung.
Woher kam die Idee für das Projekt «Jaimitna»?
Seit über einem Jahrzehnt habe ich für sahrauische Aktivistinnen und Menschenrechtsverteidigerinnen übersetzt, sie interviewt und ihre Geschichten mit mir getragen. Ich war immer der Meinung, dass ihre Stimmen es verdienen, von der Welt gehört zu werden. Die meisten dieser Frauen können oder dürfen nicht reisen. Sie haben keinen Reisepass oder erhalten aufgrund ihrer politischen Einstellung kein Visum.
«Jaimitna» besteht aus bunten Melhfas. Diese erzählen die Geschichte von 19 sahrauischen Menschenrechtsverteidigerinnen, die in der Westsahara unter marokkanischer Besatzung leben und Gewalt erlebt haben. Durch ihre Melhfas – die traditionelle Kleidung, die sie bei Protesten und Widerstandsaktionen trugen – erfahren wir auf authentische Art etwas über ihr Leben. Mir war es sehr wichtig, nicht nur ihr Leid zu zeigen, sondern auch ihre Stärke. Ich habe dieses Projekt ins Leben gerufen, um diesen Frauen eine Stimme zu geben, um ihre Geschichten mit der Welt zu teilen. Denn «Jaimitna» kann an Orte reisen, an die diese Frauen nicht gehen können.
«Jaimitna» reist durch Europa. Wie kam es dazu?
Als eines der Werke aus Afrika sollte «Jaimitna» (Deutsch: Unser Zelt) an der prestigeträchtigen Biennale di Architettura in Venedig präsent sein. Ich habe mich monatelang mit dem Zelt als architektonisches Objekt befasst und stellte ein Team zusammen, um 3D-Zeichnungen des Zeltes zu für das Festival zu erstellen. Auf den Reisen in die Flüchtlingslager habe ich alle Elemente gesammelt, die jetzt Teil von «Jaimitna» sind.
Wir hatten kein Budget. Aber ich war so leidenschaftlich beim Projekt, dass ich es geschafft habe, es mit dem Auto aus den Lagern nach Madrid zu schicken. Geplant war, es dann nach Italien zu transportieren. Leider wurde unsere Teilnahme an der Biennale kurzfristig abgesagt.
Ich erinnere mich, dass ich körperlich krank wurde. Ich hatte Tag und Nacht gearbeitet, die Melhfas gesammelt und so viele Menschen einbezogen – vor allem meine eigene Familie. Mich überkam das Gefühl, alle im Stich zu lassen. Ich gab mir ein paar Tage, um mich selbst zu bemitleiden. Dann beschloss ich, die Idee nicht aufzugeben. Und so wurde «Jaimitna» bisher in Madrid, Valencia, in den Flüchtlingslagern, im Juni 2025 beim UN-Menschenrechtsrat in Genf installiert. Und gastiert nun in Basel für das Culturescapes Festival 2025.
Was war die grösste Herausforderung?
Die Interviews mit den 19 Frauen. Ihren Schmerz auf einer so tiefen Ebene zu erfahren, war emotional überwältigend. Sie sind nicht nur Menschenrechtsverteidigerinnen – sie sind Frauen, Mütter, Ehefrauen. Nach einem Gespräch – jedes dauerte mindestens fünf Stunden – sass ich schweigend da und fühlte mich hilflos, machtlos.
Einige dieser Frauen können ihre grundlegendsten Bedürfnisse nicht decken. Laila etwa ist ohne Sehhilfe praktisch blind. Aber sie hat kein Geld, um sich eine Brille zu kaufen. Die marokkanische Polizei ist sich dieser Verletzlichkeit bewusst und zielt bei Angriffen gezielt auf ihre Brille.
Haben die porträtierten Frauen gezögert, mitzumachen?
Nein, die meisten schätzten das Interesse an ihrem Leben und zeigten grossen Enthusiasmus. Die sahrauische Kultur basiert traditionell auf mündlichen Erzählungen. Deshalb ist das Dokumentieren ihrer Biografien in «Jaimitna» so wichtig – sie dienen gleichzeitig als Archiv. Leider verstarb dieses Jahr Fatimatou Dahwar, eine der «Jaimitna»-Frauen. Ihre Biografie und ihre Melhfa werden ihre Geschichte für kommende Generationen weitererzählen.
Welchen Bedrohungen sind Menschenrechtsaktivistinnen in der besetzten Westsahara ausgesetzt?
Sie leben in einem Klima der Angst und erleiden weit verbreitete systemische Menschenrechtsverletzungen – nur weil sie es wagen, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren. Es gibt Repressalien gegen sahrauische Frauen aufgrund ihres Geschlechts und ihres Status in der Gesellschaft. Durch die marokkanischen Sicherheitskräfte erleben sie sexuelle und politische Gewalt, Überwachung, Hausarrest und Isolation oder die Belästigung von Familienmitgliedern.
Können Sie als Sahraui in das besetzte Gebiet reisen?
Im Prinzip ja, praktisch eher nein. Mein norwegischer Pass, den ich vor vier Jahren erhalten habe, erlaubt mir, nach Marokko und auch in die besetzten Gebiete ohne Visum einzureisen.
Aber, seit ich in Europa bin, setze ich mich aktiv für Selbstbestimmung der Sahrauis ein, halte Vorträge in Norwegen und habe «Jaimitna» im UN-Menschenrechtsrat etabliert. Ich protestiere lautstark und öffentlich gegen die marokkanische Besatzung der Westsahara. Marokko hindert Journalist*innen, Anwält*innen, Aktivist*innen und Politiker*innen daran, die besetzten Gebiete zu betreten. Der äusserst schwierige Zugang zum Gebiet ist denn auch einer der Hauptgründe, warum die Westsahara in den Medien wenig bekannt und unterrepräsentiert ist.
Was fordern Menschenrechtsaktivist*innen in der besetzten Westsahara?
Allem voran die Achtung der Menschenrechte. Sie fordern eine systematische Überwachung von Menschenrechtsverletzungen durch die UNO, die es bis heute nicht gibt. Und sie wollen endlich über ihre Zukunft entscheiden und das Referendum über die Selbstbestimmung der Sahrauis abhalten.
Sie sind auch eine Stand-up-Comedian. Wie gehen diese beiden Engagements zusammen?
Zuerst wollte ich nur Menschen zum Lachen bringen und über mich selbst lachen. Ich fing mit Stand-up-Comedy an, weil ich eine Pause vom Aktivismus und der ständigen Konfrontation mit schwierigen Nachrichten brauchte. Ich fühlte mich ausgebrannt und wollte diesen Themen entkommen. Gleichzeitig wollte ich erforschen, wer ich bin: Eine Person, die mit einem Fuss in der sahrauischen und mit dem anderen in der norwegischen Gesellschaft steht.
Aber sehr schnell war mir klar, dass ich nicht so einfach zu anderen Themen übergehen konnte, ohne zuerst zu erklären, wer ich bin und warum ich zum Beispiel diesen Akzent habe. So wurde Stand-up bald auch zu einer Bühne für Advocacy. Ich spreche über Menschenrechte, Doppelmoral und humanitäre Hilfe. In einer meiner drei Shows «Vintage Scandic Vibes: From Sweden with Love» in Schweden geht es etwa um das Aufwachsen mit Secondhand-Kleidung aus Europa. Ich kritisiere darin den übermässigen Konsum von Kleidung, die oft als Vintage vermarktet wird.
Asria Mohamed Taleb ist Künstlerin, Kuratorin und multidisziplinäre Kreative, die sich in ihrer Arbeit mit Themen wie Identität, Widerstand und Vertreibung auseinandersetzt. Geboren und aufgewachsen in den sahrauischen Flüchtlingslagern in der Wüste Algeriens, nutzt sie Kunst als Werkzeug zur Bewahrung der sahrauischen Kultur und zum politischen Ausdruck. Sie ist Kuratorin von «Jaimitna», einem partizipativen Kunstprojekt, das sahrauische Stimmen und Erzählungen sichtbar macht. Als Menschenrechtsverteidigerin und Journalistin setzt sie sich in Norwegen seit über zehn Jahren für die Sache der Sahrauis ein. Sie hat über 1000 Veranstaltungen zur Öffentlichkeitsarbeit organisiert und Delegationen von Aktivist*innen, Politiker*innen und Journalist*innen in die sahrauischen Flüchtlingslager von Tindouf, Algerien, geführt. Sie produziert und moderiert «Sandfast», den ersten Podcast zum Thema Westsahara (Norwegisch, Englisch). Neben ihrem aktivistischen und künstlerischen Schaffen tritt sie seit drei Jahren als Stand-up-Comedian auf.