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Sticken gegen Gewalt: Wie Handarbeit und Aktivismus zusammengehen

In einem Workshop im Rahmen der Tour de Lorraine in Bern erprobten wir Ende April Methoden des craftivism, also wie Handarbeit und Aktivismus zusammengehen. Die brasilianische Künstlerin Eva de Souza liess uns teilhaben an ihrer reichen Erfahrung zu Textilkunst als Ausdrucksform im Widerstand gegen Gewalt. Wir haben viel gelernt über die Kraft von Kreativität für den sozialen Wandel.

«Ich fühle mich oft ohnmächtig und traurig angesichts der vielfältigen Krisen in unserer Welt. Das blockiert mich.», äusserte eine der Teilnehmerinnen im lockeren Austausch, während wir alle stickten. Genau diese Gefühle kennt Eva de Souza nur zu gut. In ihrer Heimat Salvador in Brasilien war sie seit jeher mit grossen sozialen Problemen konfrontiert. Polizeigewalt, Diskriminierung und tödliche Waffengewalt gehören zum Alltag, die brutalen Schrecken des Kolonialismus und Rassismus wirken weiterhin nach. «Für mich ist das Sticken ein Weg, die Gewalt zu verarbeiten, den Schmerz auszudrücken und damit auch zu heilen». Eva trägt ein Anzugsakko, das wild bestickt ist mit Namen von Opfern von Polizeigewalt, ein stilles Mahnmal gegen das Vergessen. «Wenn ich sticke, kann ich mich beruhigen, Angstgefühle und Blockaden lassen nach. Ich kann etwas konkretes tun.» beschreibt die Künstlerin ihre Erfahrung. Und genau das wurde auch in dem knapp zweistündigen Workshop für alle spürbar. Die Teilnehmer*innen waren eingeladen, auf einem kleinen Stück Stoff Worte oder Symbole zu sticken, die das ausdrücken, was sie in den vielfältigen Veranstaltungen auf der Tour de Lorraine zum Thema «Krieg und Frieden» am meisten berührt hat. Eine gestickte Essenz des Erlebten. Einige stickten bewusst positive Begriffe, in denen die Sehnsucht nach Utopie zu Ausdruck kam oder einfach «das Leben ist schön» als Gegenpol zu den vielen grossen Herausforderungen unserer Zeit. Andere drückten ihre Überforderung und Trauer aus. Im gemeinsamen Tun entstand eine ruhige, gemütliche und friedliche Atmosphäre. Das Sticken wurde zum Vehikel, offen zu erzählen, was uns bewegt. In der kurzen Zeit erlebten wir Verbundenheit in der Gruppe, viel Persönliches wurde geteilt. Der Austausch ging tiefer als bei den gewohnten Diskussionen und Debatten. Es war mehr Platz für Gefühle.  

Eben diese Wirkung beschreiben Autor*innen der craftivism-Bewegung als die Stärke dieses Ansatzes. Craftivism ist eine Wortkombination zwischen craft (englisch für Handwerk oder Kunsthandwerk) und Aktivismus. So schreibt Sophie Freeman von craftivist collective «Craftivism ist ein Weg, seine Meinung durch Kreativität zu äußern, der die eigene Stimme stärkt, das Mitgefühl vertieft und hilft, durch die gemeinsame kreative Praxis Verbindungen zu schaffen. »1 Von unseren Partnerorganisationen in Lateinamerika wissen wir das, dort haben diese Ansätze eine lange Tradition. Frauengruppen in Chile fanden in den 1970er Jahren in Wandteppichen eine Ausdrucksform ihres Widerstandes gegen die Pinochet Diktatur. Heute nutzen Betroffene von Staudammprojekten Ansätze des craftivism als stille Art des Protestes. 

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In unserem Workshop während der Tour der Lorraine wurde es erlebbar: kreative Methoden schaffen niederschwellige Begegnungsformate, wo wir aus unseren Blasen herauskommen und uns auf einer menschlichen Ebene begegnen. Dabei ist weniger das gestaltete Produkt entscheidend, sondern der gemeinsame Prozess. In einer Zeit der Digitalisierung und Schnelllebigkeit hilft diese Form des stillen Aktivismus uns, zu entschleunigen. Statt uns mit der permanenten Informationsflut zu überfordern, nehmen wir uns Zeit, «gemeinsam gegen die Ungerechtigkeit anzusticken», wie es eine der Teilnehmer*innen formulierte. Das kann ein Beitrag sein, unsere Resilienz zu stärken angesichts der vielfachen gesellschaftlichen Krisen. 


Quellen

1 How we define Craftivism: by Sophie Freeman – Craftivist Collective (craftivist-collective.com) 

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