Elodia Nieves Balanta (Bild) leitet die Stiftung Paz y Bien im Distrikt Aguablanca der kolumbianischen Grossstadt Cali, ein Armenviertel mit 1 Million Menschen und einer hohen Afrobevölkerung. terre des hommes schweiz unterstützt die gemeinnützige Arbeit von Paz y Bien in Aguablanca. 200 Jugendliche aus 140 Familien werden hier gefördert, damit sie einen anderen Weg als den der Gewalt und Drogen gehen können. Das Interview mit der Direktorin unserer kolumbianischen Partnerorganisation.
Elodia Nieves Balanta, was ist das Besondere an Paz y Bien?
Wir sind eine Organisation, die in der Gemeinschaft verwurzelt ist. Die meisten unserer Mitarbeitenden sind wie ich Frauen, die hier leben. Uns bewegt die Zuneigung und Liebe für die Menschen in Aguablanca. Wir knüpfen soziale Bande, besonders mit Hilfe von Frauen. Die Mehrzahl der Mütter in Aguablanca ist alleinerziehend. Unser Ansatz ist es, uns um die ganze Familie zu kümmern und nicht nur um die Jugendlichen. Menschenrechte sind ein wichtiges Thema. Es gibt hier viele Konflikte. Wir müssen lernen, sie friedlich zu lösen. Wir wollen eine Kultur des Friedens aufbauen und ein faires Rechtssystem für alle (justicia comunitaria, Anm. d. Red.).
In Aguablanca gibt es viel Gewalt. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?
Als wir vor über 30 Jahren mit der Jugendarbeit begannen, gab es viele Gangs. Es gab zum Beispiel Konflikte, weil jemand Schuhe gestohlen hatte oder wegen Freundinnen. Jetzt sind hier Drogenbanden aktiv. Wenn jemand beim Stehlen erwischt wurde, sagten die Leute: Der verdient es, dass man ihn umbringt. Es gab viele Racheakte. Wir mussten einen Prozess beginnen, damit der angerichtete Schaden repariert und ein gewaltfreies Miteinander möglich wird. Daran arbeiten wir bis heute. Wenn Jugendliche aus dem Gefängnis kommen, hören wir ihnen zu, motivieren und begleiten sie, damit sie sich in ihrem bekannten Umfeld wieder gut einleben und von der Gemeinschaft nicht abgelehnt werden.
Wie kommen die Jugendlichen zu Ihnen?
Die Stiftung gibt es wie gesagt seit über drei Jahrzehnten und wir sind sehr anerkannt in Aguablanca. Die Jugendlichen kommen mittlerweile von sich aus zu uns, weil Menschen in den Gemeinden sie an uns verweisen und unsere Arbeit schätzen. Oder ihre Mütter schauen mit den Jugendlichen vorbei. Das passiert, wenn ihre Kinder anfangen, Drogen zu nehmen und sie sich deswegen Sorgen machen. Oder sie denken, dass ihre Kinder mit ihrer Freizeit nichts anfangen können und deshalb bei einer Gruppe mitmachen wollen, die sie auf den falschen Weg bringt.
Wie würden Sie die Jugendlichen beschreiben, mit denen Sie arbeiten?
Es sind Jugendliche mit Träumen und Idealen. Vielen fehlt die Chance, ihre Ziele zu verwirklichen. Ihre Rechte wurden verletzt. Sie kommen aus disfunktionalen Familien mit unklaren Regeln, die sie verwirren und die ihnen dadurch schaden. Sie brauchen sehr viel Liebe. Wenn du ihnen zuhört und sie umarmst, sagen sie: Das macht zu Hause niemand. Es fehlt ihnen oft an Zuneigung. Es kommt vor, dass ein Jugendlicher oder eine Jugendliche sagt: Meine Mutter hat meinen Geburtstag vergessen. Deshalb sind Gesten und Rituale wichtig wie zum Beispiel gemeinsam Geburtstage feiern – Aktivitäten, bei denen sich die Jugendlichen wichtig fühlen und ihre Träume und Ideale teilen können.
Viele Jugendliche sind sehr intelligent. Es stecken so viele künstlerische Talente in ihnen, die wir bei Paz y Bien fördern. Es gibt begabte Sängerinnen unter ihnen, Komponisten, Tänzer und vieles mehr. Anfangs sind sie meist sehr anstrengend und schwierig. Aber nach dem Programm kehren sie nicht mehr zu Raub und Verbrechen zurück. Wer ein Programm bei Paz y Bien durchlaufen hat, studiert, arbeitet im Supermarkt, hat eine bezahlte Arbeit, Familie. Und wenn sie ihren Job verlieren helfen wir ihnen, einen neue Arbeit zu finden.
Was macht der kolumbianische Staat in Cali für diese Jugendlichen?
Nicht viel. Hier in Aguablanca kommt so gut wie keine Unterstützung von der Stadtverwaltung an. Die Non-Profit-Organisationen, die hier tätig sind, bekommen alle Geld aus dem Ausland. Im Januar trat der neue Bürgermeister von Cali sein Amt an. Es musste ein neuer Vertrag ausgehandelt werden, damit die Stadt auch jene Jugendzentren von Paz y Bien weiter finanziert, die nicht von terre des hommes schweiz unterstützt werden und in denen wir 250 Kinder und Jugendliche begleiten. Doch wegen der Corona-Pandemie hat die Stadt die Sozialausgaben gekürzt und die Finanzierung nicht erneuert. Auch interessiert sich die neue Verwaltung mehr für Infrastruktur-Bauprojekte und weniger für Soziales. Wir mussten fünf Jugendzentren schliessen und können seither nur noch die vier Zentren von terre des hommes schweiz weiterbetreiben.
Im März wurde der erste Covid-19-Fall in Kolumbien bekannt. Daraufhin begann eine der weltweit längsten Quarantänen, die erst im September in die sogenannte «neue Normalität» überging. Wie hat die Pandemie Ihre Arbeit verändert?
Es gab einschneidende Veränderungen, zum Guten und zum Schlechten. Die Pandemie hat einige Familien zusammengeschweisst und andere zerrüttet. Für viele Frauen war es problematisch, auf einmal den ganzen Tag ihren Aggressor zu Hause zu haben. Das hat die Gewalt gegen Frauen erhöht, bis hin zu Feminiziden (Mord an Frauen, Anm. d. Red.). Dies alles hatte auch Folgen für unsere Jugendlichen. Virtuell zu arbeiten und zu lernen war zu Beginn stressig für die Jugendlichen, weil wir nicht darauf vorbereitet waren. Gesundheitsaufklärung war ebenfalls ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Wir sind stolz darauf, dass sich bis jetzt keine und keiner unserer Jugendlichen angesteckt hat.
In Kolumbien hat die Gewalt in Cali zuletzt grosse Aufmerksamkeit erregt. Besonders einschneidend war das Massaker an fünf Afro-Jungen in Llano Verde, einem Viertel in Aguablanca. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?
Die Massaker nehmen kein Ende, vor allem an der Jugend. Hinzu kommen Feminizide und die Morde an sozialen Anführerinnen und Anführern (líderes und líderesas sociales, die sich in der Gemeinschaft politisch und für die Umwelt, Menschenrechte und den Frieden engagieren; Anm. d. Red.). Die organisierten Gruppen der Mafia sind vom Land in die Stadt gekommen. Es fehlt nicht mehr viel und wir sind wieder in einer ähnlichen Lage wie in den 180er-Jahren, als der Drogenkrieg in Cali wütete.
Wie gehen Sie mit dieser neuen Form der Gewalt um?
Wir kennen die Jugendlichen, die in diesen kriminellen Strukturen stecken, aber nicht ihre Chefs. Als es noch Banden waren, konnten wir mit ihnen und ihren Familien sprechen. Heute ist die Lage viel schwieriger. Es handelt sich um bewaffnete Gruppen. Die Anführer leben nicht hier, sondern in eleganteren Vierteln. Die Gruppen wollen Drogen verkaufen und die Jugendlichen zu Drogenkonsumenten und Händlerinnen machen. Ausserdem wollen sie die Jugendlichen rekrutieren für ihre bewaffneten Gruppen. Sie locken sie mit Geld, Waffen und Motorrädern.
Werden Sie und Ihr Team bei Paz y Bien bedroht?
Nein. Wir stellen uns nicht in die erste Reihe. Wir arbeiten aber daran, damit das Empowerment, die Selbstbestimmung der Jugendlichen wächst und sie dann Nein sagen, wenn die bewaffneten Gruppen sie ansprechen. Wir werden in den Quartieren respektiert. Die Jugendlichen beschützen uns.
Zuletzt: Was bedeutet für Sie Erfolg?
Erfolg ist für Paz y Bien, wenn Familien friedlich miteinander leben und Konflikte friedlich lösen können. Erfolg ist, wenn Jugendliche, denen ihr Lebensprojekt nicht klar war, sich nach unserem Programm mit dem Leben anders auseinandersetzen. Und Erfolg ist drittens, wenn Ehemalige des Programms von Paz y Bien zu Tutorinnen und Tutoren für andere Jugendliche werden. Das alles bedeutet Erfolg für mich und unsere gemeinnützige Arbeit in Aguablanca.
Wer Hillary Hidalgo Nuñez Hidalgo (16) und Hermes Alexander Aranda (24) sind und was sie über Paz y Bien sagen: Die Porträts im Magazin von terre des hommes schweiz, Nr. 4 Dezember 2020, Seite 4-7
Interview: Katharina Wojczenko, Lateinamerikakorrespondentin in Bogotá für terre des hommes schweiz
Fotos: Jaír F. Coll, Cali